Trierer Winterreise Liederzyklus von Franz Schubert
Was sind das für Menschen, die ohne feste Wohnung leben? Was geht in Menschen vor, die auf der Flucht sind und nun in einem neuen Land Anerkennung suchen?
Das seit Jahren erfolgreich tourende Projekt „Deutsche Winterreise“ erzählt vom Leben am sozialen Rand. Nun kommt es in einer Neubearbeitung als „Trierer Winterreise“ nach Rheinland-Pfalz.
Wohnungslosigkeit und das Leben von Flüchtlingen mag vielen Menschen vorkommen, wie eine ganz andere Welt: Hier sind die, die einen festen Platz im Leben haben – und dort sind die anderen, die draußen oder am Rand stehen und vielleicht sogar nicht einmal wissen, wo sie in der nächsten Nacht schlafen.
Die Spendeneinnahmen kommen
dem Café Haltepunkt des Sozialdienstes katholischer Frauen Trier
sowie Haus Lukas zugute.
Diese vermeintliche Trennung von Welten hebt das dokumentarische Kunstprojekt „Trierer Winterreise“ auf. Das Musiktheaterprojekt von Stefan Weiller (Frankfurt am Main) verbindet den Liederzyklus Winterreise von Franz Schubert (1797-1828) und Wilhelm Müller (1794-1827) mit Lebenserinnerungen von wohnungslosen, asylsuchenden, sozial benachteiligten Menschen.
Seit 2009 zieht Weiller durch Großstädte und trifft Menschen in sozialen Einrichtungen zum Interview. In 29 deutschsprachigen Städten – von Berlin, Dresden, Hamburg, Luxemburg bis Wolfsburg – wurden 390 Frauen und Männer jeweils einzeln interviewt. Sie berichteten von ihren Erfahrungen mit sozialer Ausgrenzung. Auch im Raum Trier und in der Stadt fanden Interviews statt. Weiller hat in den vergangenen Jahren auch Menschen in Einrichtungen der Caritas Trier, Koblenz und Luxemburg getroffen, die ihm für das Projekt aus ihrem Leben erzählten und ihm ihre Sehnsüchte und Hoffnungen anvertrauten. Die jüngsten Interviews fand im Frühling 2016 in einem Wohnheim für wohnungslose Männer und einem Tagestreff in Trier statt.
Zum Schutz der Interviewpartner und auf deren Wunsch wurden die Geschichten anonymisiert. Die Interviews wurden in betont kurze Texte gebracht, den Schubert-Liedern gegenüber gestellt und teilweise innerhalb eines Liedes verbunden. Die Verbindung gerät sehr schlüssig, denn auch Schubert berichtet in seinen weltbekannten Liedern von Heimatlosigkeit, Suche, Irregehen und von Verzweiflung.
Nun macht das Projekt auf Einladung der Caritas des Bistums erstmals Station in Trier.
Interview mit Stefan Weiller, dem Initiator des Kunstprojekts Deutsche Winterreise
Wie kamen Sie auf die Idee zum Projekt Winterreise?
Schon als die Winterreise zum ersten Mal hörte, beschäftigte mich die Frage, was für ein Mensch hinter den Geschichten der 24 Lieder stehen könnte. Eines Tages traf ich in Wiesbaden einen obdachlosen Mann, der mir davon erzählte, wie er auf der Straße lebte – mitten unter den Menschen der Stadt, aber scheinbar doch unbemerkt. Er war schwer alkoholkrank, seine Frau hat ihn verlassen, er verlor Job und Wohnung und eines Tages durch einen Unfall sogar sein Bein. Das Ausmaß an Einsamkeit und Verlassenheit, das er schildete, sagte mir: das ist Winterreise! Seine Geschichte war der Auftakt für eine jahrelange Spurensuche.
Worum geht es in den Geschichten?
Einsamkeit ist zentral. Ich erzähle aus der Sicht eines Trierers von den Gründen, weshalb das Leben in Frankreich genial ist. Oder von Frauen, die infolge häuslicher Gewalt Schutz in der Anonymität der Straße einer fremden Stadt suchen. Ich erzähle von Abenden an der Mosel, oder dem Leben in einem Zelt; von Anfeindungen auf der Straße, aber auch von Freundlichkeit. Es wird um die Frage gehen, warum es manchmal lebensnotwendig sein kann, einem Bettler Geld zu geben. Es wird um Liebe gehen und um Verlust. Oder ich erzähle von einem Flüchtling, der in einer dramatischen Reise nach Deutschland kam. in Sicherheit zu sein. Es wird mitunter sehr konkret von Orten der Region berichtet, manche Erfahrung könnte von überall her stammen. Es sind spannende Lebenswege, die im Projekt skizziert werden. Die Geschichten sind, bei aller Dramatik, durchaus auch unterhaltsam und mitunter kurios und humorvoll.
Was hat man in Trier davon diese Winterreise anzuhören?
Die Geschichten sind in der Region gesammelt worden. Jeder wird sie verstehen, jeder kann sie nachempfinden. Es ist ein spannender und berührender Gang durch die Umgebung von Trier, Koblenz, Saarbrücken, Neunkirchen und Luxemburg. In all diesen Städten war ich bereits für Interviews zu Gast. Nun versammeln sich also erstmals diese Begegnungen und Geschichten zu einem ganz neuen Projekt, das es in dieser Form nur in Trier geben wird.
Für das Trierer Projekt wurde eine Auswahl bestehender Texte neu arrangiert und es werden einige in diesem Jahr gesammelte Geschichten integriert, sodass die Besucher einen spannenden Einblick in das soziale Leben der Umgebung erhalten.
Gibt es einen Schwerpunkt in den Erzählungen?
Obdachlose Menschen stehen klar im Zentrum; ihre Not sieht man in allen Städten. Und jeder Mensch ist gefährdet, durch die Verkettung unglücklicher Umstände selbst an den vermeintlichen sozialen Rand zu gelangen. Davon erzählt das Projekt mit den Mitteln von Musik und Texten. Bei der Trierer Winterreise stehen auch obdachlose Frauen im Mittelpunkt. Diese Erlebnisse sind besonders eindringlich, da sie das Tabu-Thema Häusliche Gewalt aufgreifen. Aber alle Geschichten werden sehr behutsam und nie zur Schau stellend nacherzählt.
Was können Sie über die Musik und die Umsetzung sagen?
Alle 24 Lieder werden interpretiert. Aber statt nur einen Sänger zu hören, werden die Lieder auf mehrere Sänger und sogar einen Chor übertragen. Das Klavier ist das bestimmende Instrument, aber auch die Orgel wird klingen. Für viele Stücke wurden spezielle Arrangements geschrieben. Aber es ist immer Schubert, der Zyklus bleibt in seiner Schönheit und Würde erhalten.
Die modernen Geschichten verbinden sich mit den Liedern, unterbrechen sie, rhythmisieren sie, ermöglichen einen neuen Verständniszugang. Ich verspreche: So haben Sie die Winterreise nie gehört.
Die Lieder singen renommierte Künstler. Für die Aufführung in der wundervollen Liebfrauenkirche wird eine spezielle Raumchoreografie entwickelt, die übliche Grenzen zwischen Publikum und Geschehen dezent überwindet.
Die Textrezitation wird von der Sprecherin Birgitta Assheuer übernommen. Der beteiligte Pianist, Hedayet Djeddikar, hat zahlreiche Preise gewonnen und ist unter anderem regelmäßig Liedbegleiter beim ARD-Musikwettbewerb.
An wen richtet sich das Projekt?
An alle Menschen, die an einem ebenso schönen wie anspruchsvollen Kunstwerk interessiert sind. An Menschen, denen das Leben und Erleben ihrer Nachbarn nicht egal ist. Aber auch an jene, die Schuberts Meisterwerk neu erleben und verstehen wollen. Ein Missverständnis wäre die Vermutung, es handelt sich bei dem Projekt um ein Kulturangebot für obdachlose Menschen. Ich wünsche obdachlosen Menschen andere, leichtere Formen der Unterhaltung, denn das Projekt beschreibt ja gerade das, was die Leute im Alltag an sozialen Härten erleben. Natürlich sind diese Menschen als Besucher willkommen, aber das Konzert richtet sich vorwiegend an andere Gruppen.
Ich hoffe vor allem, dass sich Menschen, denen es vermeintlich gut geht, diesen Liedern und Geschichten und damit diesen Menschenschicksalen zuwenden – und damit den eigenen Horizont erweitern. Im Zuhören liegt der Schlüssel zum Verstehen. Im Projekt bekommen Menschen von der Straße eine Stimme, ohne sich dem Blick der Öffentlichkeit direkt aussetzen zu müssen. Was die Besucher letztlich mit dem Gehörten machen, wie sie es verarbeiten, kann ich nicht ermessen. Aber ich wünsche mir, dass Menschen noch zuhören wollen und damit den Eindruck korrigieren, dass man gesättigt ist von vielen Menschenschicksalen. Im Projekt wird Fremdheit aufgelöst. Man muss nicht alles verstehen oder gut finden, was die Menschen im Projekt erzählen, aber man sollte doch anhören, welche Lebensläufe in unserer Nachbarschaft nehmen können, gerade wenn es die Lebensläufe von Obdachlosen sind. Es könnten schnell auch unsere eigenen Lebenswege werden, denn Obdachlosigkeit ist keine Frage des Charakters, sondern der Stabilität des sozialen Netzes.
Wie finanziert sich das Projekt?
Das ist derzeit noch eine Herausforderung, wenngleich sich schon erste Förderer fanden, etwa die Stiftung Winterreise. Die Caritas bietet das Konzert bei freiem Eintritt an, damit jeder Mensch unabhängig seines Einkommens die Lieder hören kann. Über Spenden freuen sich die Caritas aber sehr, denn sie helfen dabei, die Kosten, etwa für die Tontechnik, Honorare und den Konzertflügel, zu decken. Jeder Betrag, der über den Kosten liegt, wird der Obdachlosenhilfe im Umfeld der der Caritas Trier gespendet.
Was wollen Sie mit dem Projekt erreichen?
Diese „Trierer Winterreise“ ist sozial anspruchsvoll und künstlerisch ambitioniert, aber sie bleibt frei von pädagogischen Forderungen und Belehrungen. Natürlich wollen wir an diesem Abend berühren, aber nicht mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger. Sie ist weit mehr als Unterhaltung, aber eben auch sinnlich und spannend wie ein Gang durch die Region aus der Sicht obdachloser Menschen. Außerdem ist es ein Gang durch die Zeit heute und die von Franz Schubert und Wilhelm Müller. Zeitgrenzen verschwinden, am Ende bleibt ein Einblick in die Herausforderungen des Alltags auf der Straße, die Möglichkeit von Liebe und auch die Abgründe des Menschseins – das wünsche ich mir.
Muss man vor diesem Abend auch ein bisschen Angst haben, weil das Konzert als emotional belastend empfunden werden könnte?
Angst muss sicher niemand haben. Die Lieder und Geschichten werden Sie aber nicht gleichgültig lassen. Sehen Sie, Schubert selbst stellte 1827 seinen Freunden in Wien mit der Winterreise „einen Kranz schauerlicher Lieder“ vor, ich habe nach aufwendigen Recherchen die Geschichte von heute dazu geschrieben, zugleich bleibt aber das Geheimnis der Winterreise bestehen. Das ist spannend und, wie ich meine, sogar faszinierend.
Nein, ein beschwingt-unterhaltsames Werk wird den Besuchern nicht vorgestellt. Diese „Trierer Winterreise“ ist kein Spaziergang; in all ihrer Zerrissenheit ist sie streckenweise wohl auch manchmal im Schubertschen Sinne „schauerlich“ und verstörend, aber schön, wahr, berührend und wichtig ist sie auch.
(Interview vom Juni 2016)
Stefan Weiller konzipiert seit 2009 erfolgreich Kunstprojekte, die soziale, gesellschaftspolitische Themen in neue Ausdrucksformen bringen. In seinen choreografierten, multimedialen Theater- und Konzertprojekten greift Weiller existenzielle Grenzerfahrungen auf, die Menschen in extremen Lebenssituationen machen mussten. Wohnungslosigkeit, häusliche Gewalt, Armut, Diskriminierung, Tod und Trauer – so lauten einige Themen, die Weiller für jedes Projekt neu recherchiert und künstlerisch verarbeitet. Der Autor Stefan Weiller wird damit zum Porträtisten und Biografen von Menschen am Rand der Gesellschaft. Bekannte deutsche Künstler arbeiten immer wieder in Weillers Projekten mit.
Weiller lebt in Frankfurt am Main.
www.stefan-weiller.de
Termin:
Trierer Winterreise
Sonntag, 23.10.2016
Liebfrauenkirche Trier
17 Uhr, Eintritt frei
Spenden für die Wohnungslosen- und Flüchtlingshilfe, Caritas Trier
Veranstalter: Caritasverband für die Diözese Trier e.V.
mit
Birgitta Assheuer, Rezitation
Hedayet Djeddikar, Klavier
Christina Schmid, Sopran
Susanna Frank, Mezzo
Timon Führ, Bariton
Kammerchor Portavoci
Informationen: www.deutsche-winterreise.de
Pressestimmen zu vorangegangenen Aufführungen:
"[...] Am Schluss dieser Schwarzwald-Baar-Winterreise blieb das, was der britische Tenor Ian Bostridge im "Nachklang" an seines wunderbaren, 2015 erschienen Buch "Schuberts Winterreise" geschrieben hat: Die normalen Regeln eines Liederabends sind außer Kraft gesetzt."
Schwarzwald Bote, 15.2.2016 über die Schwarzwald Baar Winterreise
"Gewiss sind viele Menschen im Publikum noch nie zuvor so eindringlich mit dieser Problematik konfrontiert worden. Auch werden sie die „Winterreise“ noch nie in einer solchen Konstellation erlebt haben."
Michael Ernst, Neue Musikzeitung Dresden, 27.01.2015 über die Dresdner Winterreise
„Packendes Theater."
Alexander Dick, Badische Zeitung, 27.11.2012 über die Freiburger Winterreise
"Eine Begegnung von Zeiten und Welten, eine Reise ins Herz, doch von höchstem Verstand."
Peter von Becker, Tagesspiegel, 13.11.2012 über die Berliner Winterreise
Eindrücklicher [...] kann man die Situation Wohnungsloser kaum nahebringen."
Stephanie Knauer, Augsburger Allgemeine, 25.1.2012 über die Augsburger Winterreise
Szenenfotos einiger Aufführungen www.deutsche-winterreise.de
Aachener Winterreise |
Frankfurter Winterreise |
Freiburger Winterreise |
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